Ein Brief, nicht nur zu Weihnachten.
Von Arthur Geiger.
Sehr geehrte Besucherinnen und Besucher,
wie fühlen Sie sich denn so? Nein, ich meine jetzt nicht im Moment, sondern bezogen auf Ihr bisheriges Leben. Warum ich Sie frage? Nun, in Deutschland fühlen sich nur etwa acht Prozent der Menschen „sehr gut“, dagegen fühlt sich jeder fünfte Deutsche krank. Nur in Portugal fühlen sich noch weniger Menschen richtig wohl. Dagegen sind in Griechenland, Irland oder Dänemark die Menschen offensichtlich glücklicher: Zwischen 40 und 50 Prozent gaben in einer aktuellen repräsentativen Untersuchung an, sich sehr gut und gesund zu fühlen.
Finden Sie das nicht auch ein wenig merkwürdig? Haben ausgerechnet die Menschen eines der wirtschaftlich reichsten und am meisten entwickelten Länder der Welt das Wohlfühlen, das Glücklichsein verlernt? Wer oder was stiehlt uns Lebenskraft, raubt Energie und bedroht uns? Wer sind diese schamlosen „Diebe“?
Erster Dieb: Billig ohne Ende und trotzdem blöd?
Billig. Wäre nicht „Hartz IV“ das Wort des Jahres 2004, so müsste es „billig“ sein. Eine Nation fiebert von einem Preissturz in den nächsten und „Schnäppchenjäger“ halten viele schon für einen dreijährigen Ausbildungsberuf. Dumm bloß, dass „Billig“ meistens bedeutet, in Indien oder Asien produziert zu werden und bei uns nicht nur keinen einzigen Arbeitsplatz schafft, sondern dergleichen haufenweise vernichtet. Und die traurigen Gesichter der billigen Verkäufer im Billigmarkt stören den schönen Schein der grellen, Erlösung verheißenden Werbung. Nur nicht blöd sein und lieber gleich zu Hause bleiben, denn billiger als billig ist: nichts.
Zweiter Dieb: Willig und unauffällig – typisch deutsch?
Mit Staunen schauen wir über die Grenze zu unseren französischen Nachbarn, wenn diese mal wieder lautstark und entschlossen Ihren Unmut über bestimmte politische Entscheidungen kundtun. Da blockieren dann schon mal zur nachhaltigen Unterstützung hunderte von Traktoren und Lastwagen wichtige Straßen. Und das Verblüffende: Auch die Nichtdemonstranten stärken den gewaltfrei Protestierenden den Rücken – auch wenn sie dabei selbst stundenlange Verspätungen oder andere Behinderungen zu ertragen haben. Und bei uns? Fehlanzeige! Nur nicht auffallen, nur nicht laut werden, Ruhe bewahren und herunterschlucken. „Prima Klima“, sagt sich der nächste Dieb…
Dritter Dieb: Überwacht auf Schritt und Tritt – der gläserne Mensch.
Man nehme die dreistesten und unglaublichsten Fantasien einiger Politiker, würze sie mit Terrorismusverdacht und akuter Bedrohung, rühre gründlich um und fertig ist ein feines Süppchen sprich Gesetz, dessen „Genuss“ noch einigen von uns bitter aufstoßen dürfte: Nicht nur, dass bald Beamte in Sozial- oder Finanzämtern online auf viele Daten unserer Bankkonten zugreifen, nein, auch der gesamte Internetverkehr wird schon bald komplett überwacht werden.
Wundern Sie sich also nicht, wenn demnächst die Polizei bei Ihnen klingelt: Wenn Töchterchen die neueste Schnulze des geliebten Popsternchens via Online-Tauschbörse herunterlädt und wiederum zum Tausch bereitstellt, können Rechteinhaber (= Musikkonzerne) problemlos die Personalien des Anschlussinhabers erfahren und Sie mit abenteuerlichen Prozessen und Schadenersatzforderungen überziehen. „Big Brother“ lässt grüßen. Briefgeheimnis? Datenschutz? Unverletzbarkeit der Privatspähre? Fehlanzeige! Der Bundesbürger im Jahre 2005 ist wie aus Glas, so durchsichtig und kontrollierbar wird sein Leben sein. Die Visionen des George Orwell werden wahr. Ach ja: Die Terroristen interessiert das herzlich wenig. Denn die telefonieren aus Telefonzellen und bedienen sich toter Briefkästen. Aber wer glaubte schon ernsthaft an diesen Vorwand?
Vierter Dieb: Informationen ohne Ende.
Dass stundenlanges tägliches Fernsehen dumm und träge macht, wissen wir nicht erst seit der Untersuchung des Psychologischen Instituts der Albert-Ludwigs-Universität in Freiburg aus dem Jahre 2000. Dort nämlich wurde festgestellt, dass Vielseher abstumpfen, kommunikativ verarmen und psychisch weniger belastbar sind. Das Fatale jedoch ist die schleichende Veränderung der eigenen Wahrnehmung, des eigenen Weltbildes: Wo tagtäglich das Blut und Elend der ganzen Welt in Farbe und Dolby-Stereo über die Mattscheibe flimmert, da ist es mit dem wachsenden Unwohlsein der gebannten Zuschauergemeinde nicht weit her. So versicherten denn auch in einer deutschen Studie weit über die Hälfte aller Befragten, dass sie sich mehr denn je bedroht fühlten und den Eindruck hätten, dass die Anzahl der Schwerverbrechen in den letzten zehn Jahren deutlich gestiegen sei. Richtig ist allerdings das Gegenteil: Die Zahl der Schwerverbrechen ist seit vielen Jahren rückläufig. Allerdings: Die Berichterstattung der Medien über diese Themen nahm in den letzten Jahren stark zu – so entsteht eine fatale (Schein-)Wirklichkeit.
Fünfter Dieb: Einmal gut, immer gut: Die Angst vor Veränderungen.
„Wer heute eine Sache in der gleichen Weise erledigt wie vor zehn Jahren, der macht mit großer Wahrscheinlichkeit etwas falsch“. Dieses Zitat von einem amerikanischen Wirtschaftsforscher bringt auf den Punkt, womit wir uns noch immer schwertun: 50 Jahre Wohlstand und Sorglosigkeit schaffen nicht unbedingt ein Klima der Veränderungsbereitschaft und der Einsicht, dass alle Wege vom Gipfel herab nach unten führen. Doch verändern wir uns nicht, so werden uns andere verändern.
Sehr geehrte Damen und Herren, die Liste der „Diebesbande“ ließe sich noch um einige weitere Kandidaten verlängern. Allen gemein ist die Tatsache, dass WIR es zulassen müssen, von diesen Gesellen um einen guten Teil unseres Wohlbefindens, letztendlich unseres Lebens betrogen zu werden. Wappnen wir uns dagegen so sorgfältig wie wir es vor jedem gewöhnlichen Taschendieb zu tun pflegen. Der Lohn ist ein bewusstes, mehr selbstbestimmtes und zufriedeneres Leben.
Ihnen und Ihren Nächsten wünschen wir friedvolle Feiertage, die Ihnen Zeit zum Entspannen und „Abschalten” gewähren. Kommen Sie gut über das neue Jahr 2005 und bleiben Sie uns gewogen.
Herzlichst,
Ihre Redaktion
kinzigtal.de
Zum Autor:
Arthur Geiger (36) ist Inhaber eines IT-Fachbetriebes und schreibt u.a. regelmäßig für EDV-Fachzeitschriften.